erschienen in der WLZ am 15.07.2014
Berlin-Besucher zieht er magisch an: der Deutsche Bundestag mit seiner begehbaren Glaskuppel des Architekten Norman Foster. Es ist das am meisten besuchte Bauwerk der Stadt. Aber nur einige nutzen die Gelegenheit, auch seiner Funktion als Deutschlands Parlament nahezukommen. Besucher dürfen max.1 Stunde auf die Zuschauerränge unter strengen Regeln: keine Fotos, keine Zwischenrufe, kein Applaus, keine Handys und keine Nahrungsaufnahme, kein Nickerchen.
Der Schriftsteller und Journalist Roger Willemsen wollte es genau hören und sehen, was das Parlament Deutschlands tut und erwirkte sich – jede Woche neu – eine Sondergenehmigung für den dauerhaften Besuch im Wahljahr 2013 an jedem Sitzungstag vom Anfang bis zum Schluss, manchmal erst gen Mitternacht.. Er beobachtet und notiert aufmerksam und arbeitet auch noch insgesamt 50.000 Seiten Parlamentsprotokolle durch. Damit liefert er uns ein einzigartiges und präzises Bild aus dem Hohen Haus unseres Landes, von dem Ort, an dem alle Entscheidungen fallen, die uns betreffen. Und von dem wir selten und nur in kurzen Ausschnitten per TV erfahren. Aber wie ist das komplette Bild abseits der Kameras im parlamentarischen Alltag?
Schnell wird klar: hier wird zwar öffentlichkeitswirksam abgestimmt, aber die Diskussionen, Vereinbarungen und Entscheidungen finden nicht hier statt, sondern in Gremien, Kommissionen, Arbeitsgruppen und geschlossenen Foren. Der Bundestag ist eine Art Schaubühne des Parlamentarismus, aber keineswegs sein Maschinenraum. Da sind die neuen Abgeordneten, die mit tiefer Überzeugung das erste Mal auftreten, da sind die kühlen Routiniers, und auch die Sprücheklopfer und Zwischenrufer. Da sind die Rituale der Nichtachtung vom offensichtlichen Aktenstudium und Simsen bis zum herzlichen Gespräch mit Kollegen – deutlich zur Schau getragene Unaufmerksamkeit. Es gibt die großen Debatten und Feierstunden, Situationen der Rührung, der Freude, des Schreckens sogar und des Protests. Ebenso aber finden sich ernüchternde Beobachtungen aus der Stammeskultur des Parlamentariers. Willemsen nimmt niemanden aus und bleibt unbestechlicher Zeuge. Mehrfach beschreibt er das Ritual der Kanzlerin, sich bei Reden der Oppositionsgranden tief in ihre Handtasche zu verabschieden.
Willemsen zeigt uns nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Seine hervorragende Beobachtungsgabe, seine Geduld und auch Empathie machen aus diesem Tagebuch des deutschen Parlamentarismus eine spannende und erhellende Studie über die Demokratie in Deutschland.
Sabine Belz
Förderverein Christine-Brückner-Bücherei Bad Arolsen
Roger Willemsen
Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament
S. Fischer Verlag, 2014, 397 Seiten, 19,99 €