erschienen in der WLZ am 04.11.2014
Es ist Herbst, und traditionellerweise jagt in dieser Zeit ein Buchereignis das nächste. Da sind natürlich die Buchmesse und vor allem die verschiedenen Buchpreise bis hin zum Literaturnobelpreis. Doch zwei Ereignisse stechen in diesem Jahr aus all den großartigen Events heraus: der Tod von Siegfried Lenz sowie der 25. Jahrestag des Mauerfalls. Zwei konträre Dinge, denn Deutschland und die Welt haben einen ihrer großartigsten und bedeutendsten Denker verloren, während man sich gleichzeitig gern an den Freudentaumel erinnert, damals im Herbst 1989. Beides spiegelt sich in einem der bedeutsamsten Bücher der deutschen Literatur nach 1945: Siegfried Lenz‘ „Deutschstunde“. Der Themenkomplex der Pflichterfüllung, der Verantwortung, des Verrats und vor allem des Obrigkeitsgehorsams und -ungehorsams ist das hervorstechendste Merkmal dieses großen deutschen Romans und liefert die Folie, durch die unterschiedliche politische Geschehnisse – allen voran der Mauerfall – überzeitlich gedeutet werden können.
Siggi Jepsen ist Insasse einer Besserungsanstalt für Jugendliche und bekommt in der Deutschstunde das Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht.“ Er gibt ein leeres Heft ab, da er schlicht zu viel zu diesem Thema zu sagen hat und nicht den Anfang finden kann. Im Strafarrest widmet er sich dem Thema und wird von Erinnerungen übermannt: In mehreren Rückblenden wird die Geschichte von Siggis Vater Jens Ole Jepsen erzählt, der als Polizeibeamter 1943 dem Maler Max Ludwig Nansen, seinem Freund aus Kindheitstagen, das Berufsverbot zu überbringen hat und die Einhaltung überwachen muss (dies ist übrigens angelehnt an die wahren Begebenheiten um den Expressionisten Emil Nolde, der unter den Nazis verboten wurde und eine sehr schillernde Persönlichkeit war). Jepsen nimmt seine Pflicht allzu ernst und das Tauziehen zwischen den beiden Männern nimmt bisweilen groteske Züge an. Siggi interveniert, indem er einige Gemälde Nansens in einer alten Mühle versteckt.
Selbst nach Kriegsende ist Jepsen senior nicht von seiner absoluten Pflichterfüllung abzubringen, gnadenlos und fanatisch verfolgt er Nansen. Als die Mühle mit den versteckten Bildern abbrennt, nimmt Siggi an, sein Vater hätte dies zu verantworten. Er steigert sich in einen Wahn hinein und ist völlig von der Idee durchdrungen, seine Mission bestünde in der Rettung der Bilder. Er wird zum Kunstdieb, was ihn letztlich in die Besserungsanstalt bringt. Der Kreis aus Pflicht, Ungehorsam und Verantwortung schließt sich.
Vater und Sohn sehen sich auf der Seite des Rechts und entwickeln fanatische Züge. Die Diskrepanz zwischen höriger Pflichterfüllung und Ungehorsam aus bester Absicht klafft auf und offenbart den schmalen Grat zwischen Recht und Unrecht.
Eine lohnenswerte Lektüre in allen Zeiten, in denen die politische Lage den Einzelnen vor die Wahl zwischen Pflichterfüllung und Ungehorsam stellt.
Katrin Scheiding
Förderverein Christine-Brückner-Bücherei Bad Arolsen
Siegfried Lenz. Deutschstunde
Roman, Hoffmann und Campe 2006, 512 S., 12 €