erschienen in der WLZ am 09.12.2014
Das Stockholmer Auswahlkommittee für den Literatur-Nobelpreis hat auch dieses Jahr wieder das Publikum und ebenso den Preisträger überrascht. Der französische Autor Patrick Modiano, 1945 bei Paris geboren, gehörte keineswegs zum engeren Kreis der « Verdächtigen ». Modiano ist in Frankreich ein bekannter und vielgelesener Autor; für seine meist schmalen Romane, rund 20 an der Zahl, hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Prix Goncourt (1978), den Romanpreis der Académie Française und 2012 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.
Seit 1967 als freier Schriftsteller in Paris tätig, wurde er 1968 schlagartig bekannt mit seinem ersten Roman « Place de l’Etoile », der erst 2010 im Hanser-Verlag auf Deutsch erschien. Dieses Erstlingswerk eines 23-Jährigen im aufgeregten Paris der 68er-Revolte ist weniger ein Roman als eine wilde, zuweilen überkonstruierte Travestie auf die unbewältigten 40er Jahre in Frankreich. In den makabren Ereignissen um die Hauptfigur, den « Kollaborations-Juden » Rafael Schlehmilowitsch, verarbeitet Modiano den traumatisierenden Wahnsinn des Antisemitismus im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich. Und so verwundert es nicht, dass Schlehmilowitsch gegen Ende des Buches sogar bei Sigmund Freud auf der Couch landet, der ihm eine « jüdische Neurose » bescheinigt. Der Roman hat starke autobiografische Elemente. Modiano, als Sohn eines jüdischen Geschäftsmannes, der mit den Nazis kooperierte und unter falschem Namen untertauchte, und einer flämischen Schauspielerin, wuchs zunächst bei den Grosseltern, dann im Internat auf. Seitdem lebt er in Paris, in und mit der Stadt, die für ihn das Erinnerungspanorama stellt. Er verlässt Paris fast nie, so heisst es. Paris ist sein Schauplatz und sein Nährboden.
Seine Erinnerung macht sich an Plätzen, Adressen, Strassenkreuzungen und Restaurants fest. Tagebuchnotizen helfen ihm, vom Paris von heute in das der 60er oder 40er Jahre zurückzukehren. Erinnerung und Gegenwart überlagern sich in einer Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit. So spürt er in « Der Horizont » einer vergangenen Liebe nach, bis ihn schliesslich eine Spur nach Berlin führt. Oder er rekonstruiert die Affäre des jungen Schriftsteller-Aspiranten Jean mit der ebenso jungen und doch geheimnisvollen Dannie, die mit zweilichtigen Typen verkehrt, von der Polizei gesucht wird und schlagartig verschwindet.
Das einzige Geheimnis, das ihm Dannie je verrät, ist ihr wahres Alter: Sie habe ihn angelogen, das bedrücke sie sehr, sie sei nicht 21, nein schon 24. Diese banale Enthüllung erscheint umso skurriler im verwirrenden Kaleidoskop des Romans « Gräser der Nacht », den man durchaus einen Krimi nennen könnte. Von Entführung, ja Mord wird gemunkelt.
Modiano bleibt sachlich-erzählerisch unbeteiligt; er beobachtet in die Erinnerung hinein und bemüht sich auch nicht um Schlüssigkeit. Während er durch Paris flaniert, flaniert er gleichermassen durch Erinnerungen und die Geschichte der Stadt Paris; Geschichte, die aus sprechenden Schichtungen besteht, die der Autor in seinem ganz eigenen Stil, verwandt den kühlen schwarz-weiss Filmen der « nouvelle vague », für uns freilegt.
« Place de l’Etoile », Hanser Verlag 2010, 17,90€
« Der Horizont », Hanser Verlag 2013, 17,90
« Gräser der Nacht », Hanser Verlag 2014 18,90€