von Elke Riemer-Buddecke
Edition Gallimard, Paris 2007/ Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012/15
In diesem Leben, das uns manchmal vorkommt wie eine große Brachfläche ohne Wegweiser, inmitten all dieser Fluchtlinien und verlorenen Horizonte, würde man gern Bezugspunkte finden, eine Art Kataster anlegen, um nicht länger das Gefühl zu haben, dass man sich ziellos treiben lässt. Also knüpft man Beziehungen, versucht, ungewisse Zufallsbekanntschaften zu festigen (S. 51).
Melancholisch wie diese Zeilen, so klassisch einfach in der Diktion wie sonst selten in moderner Literatur ist Patrick Modianos Roman Im Café der verlorenen Jugend, dass das Lesen zur Droge werden kann. Er zeichnet, getränkt durch den Grauschleier der Erinnerung, das Bild von Menschen im Paris der 1960-er Jahre, die überall Zuflucht suchen und sie nirgendwo finden, die gern von sich selbst wüssten, wer sie eigentlich sind. Sie lieben es, unter falschem Namen, falscher Adresse und mit falscher Biografie aufzutreten, damit ihre traurige Existenz nicht erkannt wird, niemand ahnt, in welch schäbigen Hotels oder Zimmern sie leben. Wenn sie sich irgendwo wohl fühlen, dann deswegen, weil niemand nachfragt, weil man der sein kann, der man zu sein vorgibt.
Das ist im Café Le Condé der Fall, das im Umkreis des Carrefour de l’Odéon liegt, ein typisches Boheme-Café, zugehörig zum berühmten Studentenviertel Chartier Latin um den Boulevard Saint Germain de Près südlich der Seine. Hier trifft sich die verlorene Jugend, junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, angeblich ohne Vergangenheit, sicher aber mit geringer Zukunftsperspektive. Im Condé stellten wir einander nie Fragen über unsere Herkunft. Wir waren zu jung, wir hatten keine Vergangenheit. Selbst die älteren Gäste, Adamov, Babilée oder Doktor Vala, verloren nie ein Wort über ihre Vergangenheit. Sie begnügten sich damit, hier zu sein, unter uns (S. 20).
Ebenso regelmäßig kommen Künstler wie Arthur Adamov mit seinem tragischen Hundeblick (S. 22, Selbstmord 1970) und Maurice Raphael (Pseudonym), Schriftsteller, die es tatsächlich gegeben hat und die nicht fiktiv sind wie die anderen Romanfiguren. Dazu gesellen sich zwielichtige Gestalten mittleren Alters mit Vergangenheit, über die man nicht spricht, nach der man besser nicht fragt. Vielleicht Kollaborateure der deutschen Nazi-Besatzung? Oder Männer mit Beziehungen zur Unterwelt? So z.B. der Privatdetektiv Pierre Caisley, vom Makler Pierre Choureau beauftragt, dessen verschwundene Ehefrau Jacqueline, von den anderen Louki genannt, ausfindig zu machen, und der schließlich, wie viele ihrer geheimnisvollen Aura fasziniert, nichts preisgibt, seinen Auftraggeber bewusst desavouiert. Man nimmt voneinander Notiz, beobachtet sich, fühlt sich zusammengehörig, diskutiert über Gott und die Welt, kommt durch die Schattentür und bleibt nicht selten wie Louki, die Zentralfigur, bis zur Schließlung des Cafés, als gäbe es kein Zuhause, als wäre dies die Stätte der ersehnten Zuflucht.
Die zahllosen Straßen und Plätze des Romans sind so real, dass man meint, man laufe mit diesen verlorenen Gestalten, von denen jede am liebsten die alte Haut abstreifen (S. 23) würde, durch Paris. Und es wird für das Erleben der Romanfiguren von entscheidender Bedeutung sein, ob sie sich auf dem rechten oder linken Ufer der Seine befinden. Je näher sie den Straßen der Kindheit oder Vergangenheit sind, desto größere Umwege wählen sie, um die Gespenster der Vergangenheit zu verscheuchen. Capitaine Bowing schreibt täglich in ein Heft von 190 Seiten, wer das Café Le Condé besucht hat, als könnten bloße Namen eine Bürgschaft für Bestand sein.
Solche Bilder haben sich dem Gedächtnis der vier Erzähler eingeprägt, denen jeweils ein Romankapitel gewidmet ist. Natürlich individuell gefiltert durch Erinnerung, das zentrale Motiv des Romans, denn alle männlichen Erzähler, der Student der Bergakademie, der Privatdetektiv Caisley und der Möchte-Gern-Schriftsteller Roland erzählen erst Jahrzehnte später davon, weil sie sich auf Spurensuche, nach alten Zeiten, aber vor allem nach Louki, begeben haben. Sie finden jedoch irritiert ein völlig verändertes Paris vor. Das Café Le Condé ist inzwischen verschwunden und Schickeria-Läden für Touristen gewichen, das Chartier Latin hat seinen einstigen unnachahmlichen Charme mit der Mischung aus Anrüchigem, Künstlerischem und Studentischem verloren.
Louki, diese geheimnisvolle Schönen mit dem antikischen Profil, diese bezaubernden Verlorene, in die sich so viele verliebten, kann nicht vergessen werden, aber selbst der Erinnerung entzieht sie sich. Sie selbst betrachtete sich als Jacqueline du Néant, Jacqueline aus dem Nichts. Ihre einzig guten Erinnerungen seien Erinnerungen an Flucht und Weglaufen, wird sie von sich selbst sagen. Und bevor sie sich unter Drogeneinfluss im Beisein ihrer drogenabhängigen Freundin Jeannette Gaul, genannt Totenkopf, aus dem Fenster stürzt, sagt sie noch: „Es ist soweit. Lass dich fallen“ (S. 158). Ihren 14 Jahre älteren Ehemann, einen wohlhabenden Immobilienmakler, hat sie nach einem Jahr Ehe für den mittellosen, in der Rue d’Argentine wohnenden Roland verlassen, weil für sie das Leben an dessen Seite in einer eleganten, aber sterilen Wohnung nicht das wahre Leben (S. 52) war. Sie versetzt ihren Pelzmantel und ihren Schmuck, um in billigen Hotelzimmern zu nächtigen – ohne jeden Anspruch an den Ehemann. Aber Roland, der Sprecher des letzten Kapitels, ist auch nicht derjenige, der sie halten kann. Dafür ist er selbst eine zu gebrochene Persönlichkeit. Roland ist auch nicht sein richtiger Name, er habe sich diesen ausgesucht, um die Dinge zu vereinfachen, ein Nullachtfünfzehn-Vorname, der auch als Familienname durchgehen konnte (S. 114 f).
Typisch für Louiki und Roland ist die Szene, als sie vor einem Haus stehen, dessen Fenster erleuchtet sind und das ihnen irgendwie bekannt vorkommt. In Wahrheit haben sie nicht nur vergessen, das Licht auszumachen, sondern auch vergessen, dass sie dort wohnen. Den von der Straße aufgelesenen Hund lassen sie in der Wohnung zurück und mieten anschließend ein schäbiges Hotelzimmer, eines von den vielen auf ihrem Weg ins Nichts: ein Sinnbild innerer Heimatlosigkeit. Strandgut. Kein Wunder, dass Schnee, also Rauschgift, konsumiert wird. Roland, kaum älter als zwanzig Jahre (Louki ist 22, als sie stirbt), erfährt von Loukis Tod erst im Café Le Condé. Er hatte nur für ein paar Stunden an seinem Roman über die Neutralen Zonen gearbeitet, der sowieso nie fertig werden würde, und wollte sich dort mit Louki treffen. Jahrzehnte später (4. Kapitel) läuft er nochmals alle Straßen ab wie damals mit Louki, Jahre später (zweiter Teil des 4. Kapitels) wiederholt er dasselbe, rekonstruiert vor dem inneren Auge den Tag, an dem Louki Selbstmord beging.
Und wer war Louki? Dadurch, dass Modiano sie die Sprecherin des dritten Kapitels sein lässt, bleibt sie nicht ganz so geheimnisvoll, wie von Rezensenten behauptet wird. Man kann sich ein relativ deutliches Bild von ihr machen: Eingesperrt in einer engen Wohnung im 5. Stock, Avenue Rachel 10, in der Nähe der Place Blanche im Chartier Pigalle rechts der Seine, lebt sie unter ärmlichsten Verhältnissen, ohne Förderung und Fürsorge, erstickt fast an ihrer Einsamkeit. Sie wird lediglich ausreichend ‚versorgt‘ von ihrer Mutter, die kaum mit ihr spricht, schon gar nicht über sich selbst und Loukis möglichen Vater. Die Mutter ist Platzanweiserin im Moulin Rouge und kaum zu Hause. Sie hat einen Geliebten, der in einer Autowerkstatt arbeitet und ihr finanziell aushilft. Wie klamm die finanziellen Verhältnisse sind, wird deutlich, als die Mutter ihre fünfzehnjährige Tochter, die sich zur heimlichen nächtlichen Streunerin entwickelt hat, von der Polizeiwache abholt und kaum das Geld für das Taxi bezahlen kann. Das Kind kennt nur Misserfolg, hat keine Familie. Die Mutter hat allen Kontakt zu dem Dorf, aus dem sie nach Paris kam, abgebrochen. Spaziergänge mit Kind und Geliebtem sind die Ausnahme. Das Lycée Jules-Ferry, das Jacqueline alias Louki gern besucht hätte, nahm sie nicht auf. Eine andere Schulbildung und damit die Begegnung mit Gleichaltrigen wären für die Mutter zu kostspielig gewesen. Der einzige, der die junge Streunerin mal etwas Persönliches fragt, ist ein Wachtmeister. Die schweigsame Mutter schimpft nicht, als sie das Kind von der Wache abholt. Sie bedauert ihr Kind nur, weil sie weiß, dass sie sich ähneln: Bestimmt legte sie mir gegenüber diese gleichgültige Haltung an den Tag, weil sie sich meinetwegen keinerlei Illusionen machte. Bestimmt sagte sie sich, es sei nicht viel zu erhoffen, denn ich war ihr zu ähnlich(S. 73). Nach dem frühen Tod der Mutter, Jacqueline ist gerade erst neunzehn Jahre, wird sie das Haus der Mutter (S. 76) und die Avenue Rachel wie die Pest meiden, selbst in Rolands Begleitung.
Dass sie auf ihren nächtlichen Touren ohne Geld, aber voller Ausbruchs- und Abenteuerlust, oft hungrig und durstig, sehr bald in schiefe Hände gerät, liegt auf der Hand. Die Begegnung und Freundschaft mit der drogenabhängigen Jeannette Gaul, genannt Totenkopf, die ihr zunächst finanziell aushilft, sie aber an Drogen heranführt (Schnee im Text) und an zwielichtige ältere Herren vermittelt, denen sie später im Café Le Condé oder auf Streifzügen durch Paris mit Roland begegnet, was ihr Angst und Schrecken einjagt, wird ihr zum Verhängnis. Dass sie sich aus dieser Verbindung streckenweise lösen kann, ist ihrer Beziehung zu dem Buchhändler Guy de Verre geschuldet, der sie an Literatur heranführt und in seiner Buchhandlung dichterische Texte vorliest. Jacqueline ist fast immer bis zum Schluss der Veranstaltungen dabei, liest ihre Bücher mehrmals und mit Inbrunst – sie wäre also bei entsprechender Förderung bildungsfähig gewesen, hat immer vom Studentendasein geträumt –, nimmt auch Roland mit, der sich von Guy de Verre in den Bann ziehen lässt. Dass letztlich beide Louki alias Jacqueline lieben, gehört zur Konstruktion des Romans. Guy de Verre liebt heimlich und verzichtend, Roland darf seine Liebe ausleben, nur ‚gehört‘ Louki ihm damit noch lange nicht. Der Ehemann hat Louki schon nach zwei Monaten Bekanntschaft geheiratet – sie war Aushilfssekretärin im Maklerbüro, ihr großer, gut aussehender und sportlicher Mann ihr Chef. Er wollte sie an sich binden, wusste aber fast nichts von ihr. Dem Verlassenen bleiben nur ihr Geburtsdatum, das Hochzeitsdatum, ihr Führerschein, die Einstellungsdokumente zu ihrer Arbeit im Maklerbüro. Ein gemeinsames Schlafzimmer hat es nie gegeben. Der letzte im Bunde der Louki-Verehrer ist der Student der Ècole de supérieure des Mines (S. 30, Bergakademie), der Sprecher des 1. Kapitels, der sein Geheimnis, an dieser spröden Akademie zu studieren, um später einem ebenso faden Beruf nachgehen zu müssen (hat sich bewahrheitet), niemandem verrät, weil er sich dafür schämt. Später wird er Roland und Louki erklären, er habe sein Studium abgebrochen.
So viel Trauriges und doch so ungeheuer gekonnt und schlicht erzählt, dass man einfach verstehen muss, warum dieser pressescheue und bescheidene, sich selbst zurücknehmende Autor 2014 den Nobelpreis bekam. Man mag ihm wie manche vorwerfen, dass viele seiner Romane, die meist kaum mehr als 160 Seiten umfassen, sich im Kern ähnlich seien: un peu le même livre, räumte Modiano ein (s. Iris Radisch vom Feuilleton der Zeit – Rezension vom 16. 10. 2014), weil er eben darin auch von sich erzählt, von seiner trostlosen Kindheit mit Eltern (Vater: jüdisch-italienischer Kaufmann, Mutter: flämische Schauspielerin), die sich trennten und auseinanderlebten, wechselnde Partnerschaften unterhielten, das Kind sich selbst überließen, es verschoben, bei Freunden und im Internat unterbrachten. Sein jüngerer Bruder starb als Zehnjähriger an Leukämie. Fast ein Wunder, wie diszipliniert er schreibt und dass er selbst seit 1970 verheiratet ist. Dem Urteil von Iris Radisch: Und Patrick Modiano ist ein ganz großer Autor kann nur zugestimmt werden.