Buchtipp – Treffen im Telgte

erschienen in der WLZ am 15.05.2015

Mit Günter Grass haben wir einen der bedeutendsten Nachkriegsdichter und –denker verloren – vielleicht sogar den bedeutendsten. Sperrig, manchmal unbequem, oft streitbar, aber immer authentisch. Auf ein unglaublich reiches literarisches Erbe dürfen wir nun zurückgreifen, die großen Klassiker wie „Die Blechtrommel“ oder „Der Butt“, aber auch auf eine relativ kleine Erzählung, die in unscheinbarem Gewand daherkommen mag, aber dennoch so viel in sich trägt: „Das Treffen in Telgte.“ Gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges treffen sich die damaligen zeitgenössischen Autoren, teils gemeinsam mit ihren Verlegern, im westfälischen Telgte, um über die Literatur zu disputieren, um sich gegenseitig aus ihren jeweiligen Schriften vorzutragen und um das zu führen, was man heute wohl Werkstattgespräche nennen würde. Ganz in der Tradition der Barockdichtung fühlt man sich dabei den bestimmten Regeln und Paradigmen der Literatur verpflichtet und diskutiert angeregt über die Poesieregeln von Opitz, Gryphius, Dach und der namhaftesten Dichter und Denker des Barock. Dabei wird gegessen, getrunken und auch anderen Freuden sind die Herren Dichter und Denker nicht abgeneigt.

Aus heutiger Sicht mag dieses Geschehen beinahe surreal wirken. In Deutschland tobt ein verheerender Krieg, das Land liegt in Trümmern und die Menschen hungern – und die Herren Dichter machen sich Gedanken über das korrekte Versmaß? Parallelen zur heutigen weltpolitischen Lage eröffnen einen ungläubigen Blick: Auch heute brennt es in den verschiedensten Krisenherden der Welt. Man stelle sich vor, vor dieser Kulisse würden sich die Literaten über literaturtheoretische Feinheiten auslassen … Aber Grass wäre nicht Grass, wenn er an dieser Stelle steckenbliebe. Das Dichtertreffen kommt zu dem Schluss, dass sich die Freiheit auch und vor allem in der Freiheit des Wortes zeigt und somit der Literatur eine gesellschaftspolitische Bedeutung zukommt. Die Handlung findet ihren Höhepunkt in einer leidenschaftlichen Rede Dachs mit dem „Satz vom bleibenden Vers“: „Und wenn man sie steinigen, mit Haß verschütten wollte, würde noch aus dem Geröll die Hand mit der Feder ragen“ – dieses Bild wurde von Grass in einer Zeichnung verewigt und hat schon fast ikonischen Charakter. Hier macht es sich deutlich, wo der besondere Sinn von Literatur auch in Krisenzeiten liegt: Wer, wenn nicht die Dichter und Denker können mit bleibenden Versen kommentieren, aufschreien und aufrütteln? Dass es sich bei der Darstellung des Dichtertreffens um eine Parabel auf die Gruppe 47 handelt, ein Zusammenschluss von Schriftstellern der Nachkriegszeit, bei der Grass von führender Bedeutung war, sei nur nebenbei bemerkt – Der Anspruch dessen, welche Aufgabe Literatur in der Gesellschaft zukommt, ist in diesem Zusammenhang offensichtlich. Dieser Anspruch begleitete Grass sein Schaffen lang. Angefangen bei seiner berühmten „Danziger Trilogie“ über sein umstrittenes „Weites Feld“ bis hin zu seinen eher unglücklichen Gedichten der jüngeren Zeit – Grass war streitbar, umstritten und man war nicht immer mit ihm einer Ansicht – das musste man auch gar nicht. Aber er sagte etwas, über das es sich nachzudenken lohnte und die Literatur in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen und Phänomenen setzte. Mit diesem Anspruch hinterlässt Grass eine Lücke in der deutschen Literaturwelt, was das „Treffen in Telgte“ illustriert und gleichzeitig zu einer immer wieder aktuellen Erzählung werden lässt.

Katrin Scheiding
Förderverein Christine-Brückner-Bücherei Bad Arolsen
Günter Grass. Das Treffen in Telgte
Roman, dtv 1994, 256 S., 8,90 €

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