erschienen in der WLZ am 11.06.2015
Aus der Erinnerungsperspektive von vier Erzählern zeichnet Patrick Modiano in seinem Roman Im Café der verlorenen Jugend das Bild von Menschen im Paris der 1960-er Jahre, die Zuflucht suchen und nicht finden, die unter falschem Namen auftreten und gern von sich selbst wüssten, wer sie eigentlich sind. Wohl fühlen sie sich dort, wo niemand nachfragt, wo man der sein kann, der man zu sein vorgibt. Das ist im Boheme-Café Le Condé, Chartier Latin, der Fall. Hier trifft sich die verlorene Jugend, junge Menschen mit geringer Zukunftsperspektive. Ebenso regelmäßig kommen Künstler und Schriftsteller, manche davon reale, nicht fiktive Gestalten. Dazu gesellen sich zwielichtige Menschen mittleren Alters mit Vergangenheit wie der Privatdetektiv Pierre Caisley, vom wohlhabenden Makler Pierre Choureau beauftragt, dessen verschwundene Ehefrau Jacqueline, im Café Louki genannt, ausfindig zu machen.
Doch Louki, ebenfalls Stammgast, entzieht sich dem Zugriff, selbst in der Erinnerung. Diese bezaubernde Verlorene fasziniert viele. Sie selbst betrachtet sich als Jacqueline du Néant, Jacqueline aus dem Nichts. Ihre einzig guten Erinnerungen seien Erinnerungen an Flucht und Weglaufen, wird sie von sich sagen. Und bevor sie sich unter Drogeneinfluss aus dem Fenster stürzt, sagt sie noch: „Es ist soweit. Lass dich fallen“. Ihren 14 Jahre älteren Ehemann hat sie nach einem Jahr Ehe für den schriftstellernden Roland verlassen, weil für sie das Leben an dessen Seite nicht das wahre Leben war. Aber der mittellose Roland, Sprecher des letzten Kapitels, kann sie auch nicht halten. Typisch für die beiden innerlich Heimatlosen ist, dass sie sogar vergessen, wo sie wohnen, um wieder einmal in schäbigen Hotelzimmern zu nächtigen auf ihrem Weg ins Nichts. Schnee (Rauschgift) macht das Leben erträglicher. So erfährt Roland von Loukis Tod erst im Café. Jahrzehnte später wird er die Erinnerung an sie in den Straßen suchen, die sie gemeinsam beschritten. Louki, die Sprecherin des dritten Kapitels, ist unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, eingesperrt in einer engen Wohnung im 5. Stock, von der schweigsamen, alleinerziehenden Mutter, einer Platzeinweiserin im Moulin Rouge, zwar ‚versorgt‘, aber weitgehend sich selbst überlassen und vereinsamt. Familie und Kontakt: Fehlanzeige. Nach dem frühen Tod der Mutter wird sie das Haus der Mutter in der Avenue Rachel (Chartier Pigalle) wie die Pest meiden. Als jugendliche Streunerin gerät sie sehr bald auf die schiefe Bahn. Die Freundschaft mit der drogenabhängigen Jeannette Gaul wird ihr zum Verhängnis. Einzige Lichtgestalt in ihrem Leben ist der Buchhändler Guy de Verre. Er führt sie an Literatur heran und zieht auch Roland in seinen Bann. Dass beide Louki lieben, gehört zur Konstruktion des Romans. Auch der Sprecher des 1. Kapitels tut dies, nur heimlich. Er ist Student, verrät aber aus Scham niemandem, dass er an der spröden Ècole de supérieure des MInes studiert. – So melancholisch, aber klassisch schlicht erzählt wie selten in moderner Literatur ist Modianos Roman, dass man einfach verstehen muss, warum dieser pressescheue Autor 2014 den Nobelpreis bekam. Dem Urteil von Iris Radisch: Und Patrick Modiano ist ein ganz großer Autor kann nur zugestimmt werden.
Elke Riemer-Buddecke
Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend
DTV, München 2013, 160 S., 8,90 €