erschienen in der WLZ am 13.08.2015
Was macht es letztlich aus, das Leben? Wo führt es hin und was passiert in der Zwischenzeit? Und was genau ist das Essenzielle bei dem, was wir „das Leben“ nennen?
Dieser Frage widmet sich Robert Seethaler in diesem Roman der leisen Zwischentöne, in dem er die Geschichte des Tagelöhners, Handlangers und Seilbahnarbeiters Andreas Egger erzählt. Egger wird in einem Bergdorf irgendwann um die Jahrhundertwende herum geboren und sein Leben ist vor allem eins: hart. In der Kindheit geprügelt, bis ihm die Knochen brechen, muss er sein Leben mit einem hinkenden Bein meistern, was Egger aber nicht von harter Arbeit abhält.
Er verdingt sich hier und da als Hilfskraft und als Seilbahnarbeiter, bis er sich schließlich den Traum vom eigenen kleinen Grundstück mit einer bescheidenen Hütte leisten kann. Und dann ist da noch Marie, die Magd im Wirtshaus, Eggers große Liebe. Er kann sie für sich gewinnen, aber nicht nur seine Braut, auch seine ganze Habe verliert Egger an ein Lawinenunglück. Nun steht er im Nichts. Er schlägt sich durch, zieht in den Krieg, kehrt zurück und bietet als Bergführer Wanderungen für Touristen an. Als Schlafplatz reicht ihm eine kleine Kammer im Schulhaus, bevor er sich wie ein Einsiedler in eine höhlenartige Behausung außerhalb des Dorfes zurückzieht und als alter Mann stirbt.
So simpel die Handlung scheint, so viel Unterschiedliches verbirgt sich dahinter. Seethaler gelingt es, gleichsam sanft im Ton und kraftvoll im Ausdruck, Motive in die Geschichte Eggers einzubinden, die als Spiegel der Geschehnisse nicht nur eines ganzen Lebens, sondern auch eines unruhigen Jahrhunderts dienen. Sublimiert in der Figur des Andreas Egger bekommt der Leser epochale Geschehnisse wie die fortschreitende Industrialisierung und den Zweiten Weltkrieg präsentiert – jedoch zart und in den leisen Tönen des einfachen Mannes. Quasi als überzeitliche Figur, fast abgeschnitten vom Weltgeschehen, bietet Egger einen ganz bestimmten, ur-menschlichen Blick auf das Leben und seine Bedeutung. Raue, einfache, aber dennoch sehr poetische Sprache vermag im Leser eine neue Saite anzuschlagen und ihn für das gleichzeitig einfachste und komplizierteste Thema zu sensibilisieren. „Er hatte niemanden, doch hatte er alles, was er brauchte. Und das war genug.“ In unserer heutigen Zeit ist der Begriff des „genug“ ein dehnbarer geworden – die Lektüre der Geschichte von Andreas Eggers liefert einen neuen, aber eigentlich schon immer gekannten Ansatz dessen, was „genug“ bedeutet. Und was es letztlich ausmacht: Das, was man „das Leben“ nennt.
Robert Seethaler erhält für „Ein ganzes Leben“ den mit 10.000,-€ dotierten diesjährigen Grimmelshausen-Preis, der seit 1993 alle zwei Jahre vergeben wird. Er wird im November in Gelnhausen, der Geburtsstadt Grimmelshausens, überreicht.
Katrin Scheiding
Förderverein Christine-Brückner-Bücherei Bad Arolsen
Robert Seethaler. Ein ganzes Leben
Roman, Hanser 2014, 154 S., 17,90 €