Buchtipp – Die Schlafwandler

erschienen in der WLZ am 11.02.14

In diesem Jahr blicken zahlreiche Veranstaltungen hundert Jahre zurück zum Beginn des 1.Weltkriegs, auch «Der Grosse Krieg» genannt (in England und Frankreich). Ausstellungen, Filme, Gedenkveranstaltungen und Bücher widmen sich dieser Schlüsselkatastrophe des 20.Jahrhunderts. Aus den Sachbüchern ragt das im September 2013 erschienene Buch des australischen Historikers Christopher Clark unübersehbar heraus; es wurde sehr schnell zum «Spiegel-Bestseller»und das ZDF schwärmt vom „Buch der Saison“. Es liegt bereits in seiner 6. Auflage vor – ein ungewöhnlicher Erfolg für ein rund 900 Seiten starkes Sachbuch.

Was macht dieses Buch – angesichts einer Sekundärliteratur von 25 000 Titeln – so besonders? Clark, geboren 1960 in Australien und nun als Geschichtsprofessor in Cambridge tätig, verwirft in seinem Buch die These, das deutsche Kaiserreich habe mit seinen Großmachtträumen den Ersten Weltkrieg quasi im Alleingang verschuldet. Die Basis für seine Thesen ist ein akribisches Studium der Quellen und ein beinahe minutiöses Nachzeichnen des Weges hin zur Julikrise 1914 in drei Kapiteln:«Der Weg nach Sarajevo», «Ein geteilter Kontinent», «Krise».
Spannend wie ein Krimi beschreibt er die Verhältnisse in Serbien und auf dem Balkan, die das Attentat von Sarajevo auslösen. Die „großserbische Vision“, inklusive einer Ablehnung jeglicher Fremdherrschaft, machte das kleine Land zum Brennpunkt der Entwicklung, an deren Ende der ganze Kontinent in Flammen stand.
Danach blickt Clark auf die entscheidenden Schauplätze der Großmächte: Paris, London, St. Petersburg, Rom, Wien und Berlin. Er macht dabei deutlich, wie sehr alle Beteiligten mit der unübersichtlichen Lage auf dem Balkan gespielt haben und fast alle die Brisanz der Lage nicht erkannten: Schlafwandler eben. Dass Deutschland dabei insgesamt erstaunlich passiv daherkommt – „Nur in Deutschland wird mir vorgeworfen, ich wäre deutschfreundlich“, hat der Autor kürzlich dazu augenzwinkernd angemerkt – ist eine Überraschung. Clark sucht und gibt keine Antwort auf die «Schuldfrage».Er will nicht Ideologien und Schuld, sondern Wege und Entscheidungen aufzeigen. Wie schwierig das ist, macht das Buch sehr eindrucksvoll klar. Die Quellen bilden ein „Wirrwarr aus Versprechungen, Drohungen, Plänen und Prognosen“, schreibt Clark schon in der Einleitung, in der er die Julikrise von 1914 zudem „als das komplexeste Ereignis der heutigen Zeit, womöglich bislang aller Zeiten“ charakterisiert.
Clark geht vor allem auch der Frage nach, ob der Krieg hätte verhindert werden können. Seine Antwort lautet eindeutig: Ja. Das Buch hat einige seiner besten Momente, wenn er Kleinigkeiten herausarbeitet, die vielleicht für eine entscheidende Wendung hätten sorgen können: Wenn Kaiser Wilhelm II. nicht in einer entscheidenden Stunde zum Segeln gewesen wäre, wenn das Auto Franz Ferdinands in Sarajewo sich an die Route gehalten hätte…
Als „eine Offenbarung“ hat Deutschlandradio Kultur deshalb dieses Buch bezeichnet, „fast ein Jahrhundert nach der großen Tragödie schafft es Christopher Clark, das Geschehen in seiner Komplexität neu zu sehen und zu verstehen“.

Sabine Belz

Christopher Clark
DIE SCHLAFWANDLER
Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
896 S., DVA, 2013, € 39,99

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