erschienen in der WLZ im Dezember 2015
Der emeritierte Berliner Geschichtsprofessor Heinrich August Winkler, hochgeschätzter Grandseigneur der deutschen Historikerzunft, beendete in diesem Jahr seine vierbändige, voluminöse Werkreihe „Geschichte des Westens“ mit dem Abschlussband „Die Zeit der Gegenwart“. In diesem letzten Band untersucht er die Jahre von 1991 bis 2014: die Zeitspanne von der Auflösung des Ost-West- Gegensatzes bis zur Jetztzeit, „dem Ende aller Sicherheit“. Die Geschichte der westlichen Welt, in der er die großen historischen Linien der Menschheitsentwicklung schlüssig herausarbeitet und mit verblüffendem Hintergrund- und Detailwissen die Ereignisse einordnet und teilweise neu deutet, ist mit großem Erkenntnisgewinn zu lesen.
Winkler analysiert die Geschichte des transatlantischen Westens aus einer spezifischen Perspektive: Dreh- und Angelpunkt ist für ihn die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Zuge der Amerikanischen und der Französischen Revolution von 1776 bzw. 1789. Die Universalisierung dieser Prinzipien habe zur Durchsetzung grundlegender Werte wie der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der repräsentativen Demokratie und der Volkssouveränität geführt. Die Umsetzung dieser Werte in Staat und Gesellschaft in den folgenden Jahrhunderten bezeichnet Winkler als „normatives Projekt des Westens“. Gleichwohl gebe es in Europa und Amerika bei dieser Umwandlung unterschiedliche Wege, so z.B. in der Frage der Sozial- und Sicherheitspolitik.
In seiner Untersuchung des letzten knappen Vierteljahrhunderts befasst er sich zunächst mit den
Auswirkungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Mit dem Maastrichter Vertrag (1993) sei die Basis für die Osterweiterung der EU gelegt worden, die aus mittlerweile 28 Mitgliedsstaaten besteht. Der europäische Kontinent habe sich infolgedessen zu einem europäischen Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gewandelt. Zudem sei im Rahmen der Währungsunion ein Euroraum mit 19 Teilnehmern entstanden. Russland habe in dieser Umbruchphase zunächst westliche Werte ansatzweise angenommen, sei dann aber wieder zu einer Form des Autoritarismus und damit weitgehend zu seinen traditionellen Werten zurückgekehrt.
Auch wenn die Entwicklungen durch Winkler faktenreich und nüchtern betrachtet werden, so enthält er sich nicht jeglicher Bewertung. So sieht er insbesondere im Balkankonflikt das Versagen Europas und weniger auf Seiten der USA. Denn nach den Terroranschlägen „9/11“ habe sich Amerika im „war on terror“ befunden. Insofern habe die Frage nach der Unterstützung der G.W. Bush-Regierung im Afghanistan- und Irakkrieg (2003-2009) zwischenzeitlich eine politische Spaltung Europas herbeigeführt. Weitere Belastungs- und Zerreißproben seien durch die von entfesselten Finanzmärkten hervorgerufene Weltfinanzkrise 2008 entstanden, ebenso wie das Verschuldungsproblem einzelner Staaten, der Ukrainekonflikt von 2014 oder als neue Herausforderung der „arabische Frühling“. Die Grundfesten der EU seien jedoch nicht erschüttert worden. Die USA unter Obama hätten sich gleichzeitig stärker multipolar ausgerichtet mit einem zunehmenden Engagement im pazifisch-asiatischen Raum.
Aufs Ganze gesehen sieht Winkler eine Entwicklung „vom normativen Projekt zum normativen Prozess“, bei der es im transatlantischen Westen immer wieder Verstöße und Selbstkorrekturen der eigenen Werte gegeben habe – und weiterhin geben wird.
Anne Rüter
Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, Bd. I-IV. (2009-2015), Bd. IV, Die Zeit der Gegenwart, C.H. Beck Verlag, München 2015, 29,95€.